Faktor Mensch

Faktor Mensch

Warum Wertschätzung in der digitalen Transformation so wichtig ist und das umso mehr in Zeiten der COVID-19-Pandemie offensichtlich wird.

In meiner Arbeit erlebe ich es immer wieder: Unternehmen haben ein handfestes Problem damit, ihren Beschäftigten Wertschätzung entgegenzubringen und diese ihren Fähigkeiten und Erfahrungen entsprechend einzusetzen. Employee Experience ist hier das Stichwort.

Das zeigt sich ganz besonders in großen Konzernen, die, am besten über Nacht, digital werden wollen – oder eben das, was sie dafür halten. „Lasst uns mal eben die Softwareproduktion bündeln. Dann laden wir uns dieses „Agile Manifest“ aus dem Netz. Und auf geht’s in die Transformation!“. Nett gedacht, aber leider viel zu oft an den Menschen vorbei.

Negativbeispiel: Clash of Cultures

Wie schwierig es für Unternehmen sein kann, den neuen Anforderungen und Erwartungen gerecht zu werden, musste ich vor vielen Jahren selbst erleben. Wir hatten damals ein Hidden Champion in der Unternehmensberatung aufgebaut, wuchsen erfolgreich und haben an eine der großen Wirtschaftsprüfung verkauft. Das Ziel des Branchenriesen war klar: Wir und unser Team sollten ihren Laden mit allein 10.000 Mitarbeitenden  in Deutschland, für bestimmte Themen, die wir gut beherrschten, beflügeln. 

Die Erwartungen konnten höher nicht sein. Auch auf unserer Seite gab es Wünsche: Wir wollten das Unternehmertum, mit dem wir groß geworden waren – unsere Meetingkultur, flache Hierarchien, Collaboration und Co-Creation – in den Konzern hineintragen. Kurzum: Wir sahen die Chance, unsere Erfahrung einzubringen und wirklich etwas zum gegenseitigen Nutzen zu bewegen. 

Wir und die anderen

Was wir übersehen hatten: Wir waren in puncto Profil und Persönlichkeitsstruktur völlig verschieden. Wir arbeiteten explorativ, direkt, packten unsere Ideen auf den Tisch. Auf der anderen Seite wurden schon nach kurzer Zeit zunächst einzelne, dann immer mehr kritische Stimmen laut. „Die passen irgendwie nicht zu uns“ oder „Wir können das nicht, was die sich vorstellen“ war in dieser Zeit immer häufiger zu hören. Schnell wurde aus Erwartung Entfremdung, wir waren und blieben „die anderen“. 

Natürlich spielten viele Faktoren eine Rolle: flexible Unternehmerkultur trifft Konzern mit festen Hierarchien. Wir waren die bunte Truppe, die einer viel zu großen, nicht-diversen Mehrheit gegenüberstand. In so einer Situation wird es für die Neuen immer schwer, sich Gehör zu verschaffen und Entscheidendes zu bewegen. Vor allem wäre es Aufgabe der Führungsebene gewesen, den Prozess des Wandels mit Umsicht und Geduld zu begleiten.

Wertschätzung leben statt beschließen

Für meine Arbeit als Gründerin bei der XU Group habe ich aus dieser Erfahrung eine Menge gelernt. Wenn wir heute die Ziele einer Organisation gemeinsam mit unseren Kunden definieren, wenn wir etwa agile Frameworks einführen, begleitet uns immer auch das Thema Wertschätzung. Heute wissen wir, wie wichtig es ist, die Voraussetzung für Veränderungen gemeinsam zu schaffen – und gemeinsam zu leben. Es reicht eben nicht, sich ein „Wir gehen wertschätzend miteinander um!“ auf die Fahnen zu schreiben – und sich dann in Meetings und Workshops anzuschreien.

Meiner Erfahrung nach geht es in Unternehmen noch viel zu oft um die Fragen: „Wo wollen wir hin?“ und „Was machen wir wann?“. Meistens aber fehlt die viel wichtigere Frage „Wie gelingt uns das alles gemeinsam?“. Erst mit dem „wie“ wird Transformation als Prozess für die Menschen konkret und vorstellbar.

Ein wichtiger Faktor auf dem Weg zu einem besseren Miteinander ist für mich Authentizität. Führungskräften fehlt es nach meiner Erfahrung nicht selten an echter Überzeugungskraft, viel zu oft folgen sie Vorgaben von oben statt eigenen Plänen und Ideen. Ihre Teams, die sich klare Ansagen wünschen und jemanden, dem sie vertrauen können, spüren das genau. Auch hier wird aus Erwartung schnell Entfremdung, wenn nicht frühzeitig gegengesteuert wird. Wir begleiten manche dieser Prozesse, mahnen immer wieder dazu, geduldig zu sein, und schaffen Veränderungen gemeinsam. Dazu gehört aber eben auch, denen, die vielleicht anders denken und arbeiten, mal zuzuhören und sich für neue Ideen zu öffnen.

Zeiten des Mitfühlens

In Zeiten von Corona ist das Thema Wertschätzung spürbar präsenter geworden. Dafür gibt es mehrere Ursachen. Für uns alle war und ist Remote-Arbeit unter erschwerten Bedingungen daheim eine Herausforderung. Nach dem Motto: „Ich weiß, was Du gerade durchmachst“ begegnen wir einander wieder mit mehr Verständnis und Empathie. Ich erlebe es jetzt häufiger, dass in Workshops, wo wir vor der Krise sofort mit der Agenda loslegten, alle zunächst die aufrichtige Frage „Wie geht es dir heute?“ beantworten. Auch das ist authentisch, es tut gut und alle fühlen sich gemeint und gehört. 

Vielfach ist die Atmosphäre sogar in großen Unternehmen rücksichtsvoller und emotionaler geworden. Ein wichtiger Entscheider eines Konzerns, bisher für mich ein knallharter Geschäftspartner, erzählte mir unlängst, er habe jetzt um 12 Uhr immer ein kurzes Update mit seiner Assistentin – bei einer gemeinsamen Tasse Kaffee. Das wäre ihr gerade wichtig, erklärte er.

Pandemie als Brennglas

Corona dient, bei allem Schrecken, schon länger auch als Brennglas für Entwicklungen, die jetzt einfach mal „dran“ sind. Das gilt nicht zuletzt für das Zwischenmenschliche. Was wir davon in den Zeiten nach der Krise behalten oder kultivieren werden, lässt sich schwer vorhersagen. In (Online-)Meetings sind auch in Zukunft Aufmerksamkeit und Fokus sicher wertschätzender, als parallel auf dem Smartphone herumzutippen. Als Lernexpertin gefällt mir besonders, was ich aktuell in vielen Teams- oder Zoom-Meetings erlebe, nämlich die Fragen, was jede*r in einem bestimmten Projekt einbringen konnte – und für sich an Erkenntnissen dazugewonnen hat. Wie heißt es so schön bei Sokrates: Selbsterkenntnis ist die Bedingung praktischer Tüchtigkeit. 

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